Mittwoch, 16. Juni 2021

Dialektik aus Kunst und Leben

Die Wichtigkeit von Literatur (und insbesondere der in ihr transportierten Mythologie) für Freuds Psychologie Bedarf wohl keines weiteren Kommentars.


Wenn er in dieser Hinsicht am schlimmsten ist (Stichwort: „Urhorde“, es ist lange her, dass ich „Totem und Tabu“ gelesen habe, aber ich denke vieles in seiner Anthropologie geht in diese Richtung) wird er zum Mythen-Opa, der uns das, was wohl größtenteils seiner Phantasie entspringt, durch die Einbindung in seine Psychologie als Wissenschaft verkauft. 


Ist er hingegen gut, entwickelt er (oder zumindest: legt den Grundstein zu) einer ewigen Dialektik von Kunst und Realität. Aus dem, was er im „König Ödipus“ fand, entwickelte er etwa 2500 Jahre später, ausgehend von Beobachtungen bei seinen Patienten (gendering not required, weil alles, was er später zum „weiblichen Ödipuskomplex“ schrieb, eher dubios blieb, was nicht sagen soll, dass sich eine solche Konstellation nicht geschlechtsunabhängig nachweisen ließe), eine grundsätzliche psychosexuelle, im Leben aller Menschen wirksame Konstellation. Seiner Ansicht nach, war schon Sophokles' Stück lediglich der künstlerische Ausdruck von etwas viel Älterem (seine Anthropologie projiziert es bis ganz an den Anfang der Menschheitsgeschichte). 


Doch diese Linie hört eben mit Freud nicht auf, sondern setzt sich fort in einer Unzahl von Büchern, Filme, etc., die sich während und nach seinen Lebzeiten mit ödipalen Konstellationen beschäftigen. 


Einer davon, ein Film, der mich zu diesen allgemeinen Ausführungen brachte, ist THE RUNAWAY PISTOL. Eine sonderbare Melange aus Genre- und „Arthouse“-Film, die im Hongkong am Anfang des 21. Jahrhunderts eine Geschichte aus der Sicht einer Pistole, eines alten Revolvers erzählt, der im Verlauf des Films durch viele Hände geht, und dabei so einigen Menschen den Tod bringt.


Eine der diversen Rahmungen diese faszinierenden, verschachtelten kleinen Films ist ein Kind, das - am Anfang und am Ende - ein erwachsenes Paar heimlich beim Sex beobachtet. An solchen „Urszenen“ mag nun in der Filmgeschichte kein Mangel herrschen, das besondere hier ist aber, dass der Film Schuss und Gegenschuss, das beobachtende Kind und das erwachsene Paar, das es beobachtet, durch einen einfachen formalen Kniff voneinander trennt: Während wir das Kind in statischen klaren 35mm-Bildern sehen, ist das Paar in verwackelten, verschwommenen Videobildern gefilmt. Diese Entkopplung vom guckenden Kind und dem, was es sieht, die sich auf zwei verschiedenen filmischen Realitätsebenen zu befinden scheinen, führt zu einer Entkopplung von Subjekt und Objekt des (Kinder- und Zuschauerinnen)Blicks, die den Schluss zulässt, dass Letzteres immer schon Fiktion war, eben das, was Freud zu implizieren scheint, wenn er diese Konstellation Urszene nennt, eine Inszenierung, etwas das die Eltern für die Blicke des Kindes aufführen, in Szene setzen. 


Damit bietet ein Film, der insgesamt sicher nicht sonderlich Freudianisch gedacht ist (beim Verständnis seiner Figuren und der Motivation ihres Handelns bringt einen die Psychoanalyse nicht weit, der historische Materialismus evtl. schon eher), ganz beiläufig und wertfrei Einblick in ein grundsätzliches Faktum des Freud'schen Denkens: der Bedeutung, die Fiktion und Kunst in ihm spielen.

Schuss


Gegenschuss
Aus "The Runaway Pistol" (Copyright: Deltamac)

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