Sonntag, 30. Dezember 2018

Einige Überlegungen zu den Befindlichkeiten in gewissen Diskursen der Gegenwart

1. Ich denke nicht, dass "politisch korrekt" ein Schimpfwort ist - oder zumindest: sein sollte.


2. Ich bin der festen Überzeugung, dass jede wichtige und richtige Kritik an diesen Diskursen - und insbesondere ihren teilweise wirklich etwas bizarren Auswüchsen - von links, niemals die Sprache der Rechten annehmen sollte (ich kann diese politischen Zuschreibungen auch immer weniger leiden, aber ich denke, ihr wisst, was und wen ich meine). Ein historisches Beispiel: der große Moralphilosoph Adorno war sicherlich nicht zimperlich in seiner Wortwahl, wenn es darum ging nach seiner Flucht vor den Nazis das Grauen dieser Welt, wie es sich ihm darstellte, anzuklagen. Wie ein Nazi hat er dabei definitiv NIE geredet. Er hatte ein großes und kritisches Bewusstsein für Sprache, so schrieb er in der MINIMA MORALIA etwa, sinngemäß, dass das grundfalsche am berühmten Nietzsche-Zitat: "Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht" schon mit dem Wort "Weib" beginne. Nur wenige Jahre nach Freuds Tod, der zwar ein wichtiger Vordenker der heutigen Gender-Theorie war, aber im Alter wohl oft kein allzu großer Fan des "anderen Geschlechts" - und diese Vokabel sehr gerne verwendete (mehr dazu siehe hier). Nochmal: es kommt darauf an, wer, was, wie sagt. Es herrscht bestimmt kein Mangel an Leitartikeln von gewissen (!)älteren, weißen Männern, die meinen sich über die Gender-Theorie brüskieren zu müssen. Wenn sie klug und gebildet genug wären - oder einfach nur das nötige Interesse an dem hätten, was sie kritisieren - um einen für diese grundlegenden Text wie GENDER TROUBLE zu lesen, würden diese Artikel vielleicht tatsächlich manchmal etwas weniger doof ausfallen. Denn Butler schreibt NICHT, dass es Gender nicht gibt, weil es eine soziale Konstruktion ist. Sie schreibt, dass jeder Mensch eins hat und es als solches wirkmächtig ist in unserem Leben - und es bis auf weiteres auch weiterhin sein wird und es wichtig ist, bestimmte subversive Strategien zu entwickeln, damit umzugehen. Zimperlich in ihrer Wortwahl ist auch sie dabei gewiss manchmal nicht, so wirft sie etwa Lacan - in für mich weder gerechtfertigter noch auch nur wirklich argumentativ nachvollziehbarer Art - eine quasi alttestamentarische "Sklavenmoral" vor (Anführungsstriche von ihr, aber trotzdem). Und mal im Ernst: zu behaupten, dass es etwas nicht gibt, weil es diskursiv und sozial konstruiert ist, macht für mich eben so wenig Sinn, wie zu behaupten, dass es ein Haus nicht gibt, weil es physisch konstruiert ist.

3. Dennoch merke ich, wie schwierig es für jemanden wie mich (geworden) ist, der diese Diskurse zwar im groben kennt, aber sich nur am Rande in ihnen bewegt (mich interessiert das Konzept "politisch korrekt" schlicht nicht allzu sehr, in welche Richtung auch immer), sich manchmal in bestimmten Gesprächen zu artikulieren. Wie kommt es an, jemanden - zu dem man das Vertrauensverhältnis hat, dass es der sozialen Situation angemessen macht - aus reiner Neugier oder auch tiefergehendem Interesse über bestimmte Dinge im Hinblick auf sein/ihr Geschlecht, seine/ihre sexuelle Orientierung, o ä. zu fragen, die nicht der eigenen entspricht? Wenn man selbst eine weiße, männliche Cis-Hete ist? 

4. Privilegien, für die man nichts getan hat (im positiven wie im negativen), anzuerkennen, halte ich für richtig und wichtig. Und dass trifft auf dieser unserer schönen Scheißwelt erstmal auf jeden zu, der nicht an Hunger, größter Armut oder vollkommener Perspektivlosigkeit leidet. Nicht Gefahr läuft, dafür wie er/sie nun mal ist, dort wo er/sie lebt, spezifischen Formen von Hass, Ausgrenzung und Gewalt zu begegnen. ABER letztlich sollte das Ziel von Identitätspolitik aller Art sein, dass die Menschen besser mit sich und einander klarkommen, nicht neue Grenzen und Hemmungen aufzubauen.

5. Ich bin als postkolonialistischer Geisteswissenschaftler der tiefen Überzeugung, dass das Leid der Welt, in der wir heute leben, 1492 begann, als die Europäer nur eins entdeckten, wie groß sie tatsächlich ist, so dass sie sie in den folgenden Jahrhunderten systematischer denn je unterjochen konnten. Die zutiefst rassistische und patriarchale Gewaltherrschaft, die sie damit errichteten, schadet(e) letztlich allen Menschen. Oder glaubt hier irgendjemand, dass die Konquistadoren, die bei ihrer besinnungslosen Jagd nach materiellen Schätzen oft in den unwirtlichsten Ecken dieser Erde, nicht nur über die ungezählten Leichen der Kolonisierten gingen, sondern auch ein ums andere Mal selbst komplett den Verstand verloren, glückliche Menschen waren? Eben.

6. Ein Beispiel dazu, wie mich diese Diskurse selbst- in diesem Fall meine Kunstrezeption - beeinflussen können. Vor einigen Wochen fing ich damit an, mich intensiv mit den verschiedenen A STAR IS BORN-Filmen zu beschäftigen. In der ersten offiziellen Version des Films von 1937 gibt es in den ersten zehn Minuten eine Szene, die mich derart brüskierte, dass ich ihn zunächst abschaltete und erst einige Tage später zu Ende sah. Darin erzählt die Großmutter der Protagonistin, die in ihrem Kaff davon träumt, ein Hollywood-Star zu werden, und in der älteren die einzige Verbündete darin hat, von ihrer Geschichte. Sie verherrlicht darin gnadenlos das Siedlertum und verflucht den "injun devil", der ihrem Mann eine Kugel durchs Herz gejagt - und damit auch das ihre gebrochen hat. Der Enkelin sagt sie: "There will always be a wilderness to conquer. Maybe Hollywood is your wilderness." Damit war ich erstmal raus. Das bedeutet, dass ich erst Tage später merkte, wie gnadenlos der Film in seiner restlichen Laufzeit das alles dekonstruiert: die Kolonialisten-Träume der Großmutter und am Ende auch die Figur selbst. Es geht um ein zutiefst patriarchales System, dass NIEMALS eine weibliche Erobererin zulassen würde. Vielmehr sind es die Träume der Protagonistin, die sie selbst zum Material machen, ihr Glück systematisch verunmöglichen. Nicht sie erobert Hollywood, sondern Hollywood kolonisiert ihre Seele, zwingt sie schließlich in die vollkommene Selbstaufgabe, die sie in der letzten Einstellung mit einer damals gängigen sexistischen und misogynen Formel artikuliert, in der die Frau nur zum Anhängsel des Mannes wird - und das hier noch über dessen Tod hinaus: "I'm Mrs. Norman Maine."
Es ist damit nicht nur ein feministischer Film, sondern - wenn man seine Metapher beim Wort nehmen möchte - auch ein postkolonialitistischer - wieder einmal lange bevor es das Wort gab - und zu einer Zeit als der europäische Kolonialismus in Afrika immer noch wütete. So progressiv kann ältere Kunst sein.

7. Und die Moral von der Geschicht': Der Ton macht die Musik, ja. Aber dennoch sollte man versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen. Abwarten und verstehen, wie etwas gemeint ist, statt sich zu sehr von bestimmten sprachlichen Reiz-Reaktionsschemata leiten zu lassen.

Donnerstag, 27. Dezember 2018

Eine „Urszene“ des Kolonialismus am Ende des Fünfzehnten Jahrhunderts


Ich glaubte immer, dass die Welt rund sei; die Obrigkeiten und Erfahrungen des Ptolomäus und aller anderen, die über dieses Thema geschrieben haben, gaben als Beweise die Mondfinsternis und andere Indizien von Osten bis Westen, wie etwa die Erhöhung des Nordpols im Südwind. Doch jetzt habe ich so viele Verformungen gesehen, dass ich, wenn ich an sie denke, nicht mehr glaube, dass die Welt rund ist, wie sie es beschrieben haben, sondern die Form einer Birne hat, die rund wäre, außer dort, wo sie den Stiel oder den höchsten Punkt hat; oder wie ein runder Ball, der etwas wie eine Frauenbrust an der Stelle hätte, wo sich das Land am höchsten erhebt und dem Himmel am nächsten ist. In dieser Region unter der Äquinallinie, im ozeanischen Meer, wo alle Länder und Inseln aufhören.
Diese Annahme beruht auf meiner Kenntnis der Tierra de Gracia, des Flusses und Sees, die ich dort entdeckte, so groß, dass man ihn eher Meer als See nennen sollte, denn ein See ist ein Ort aus Wasser, und wenn er groß ist, nennt man ihn Meer, weswegen man die von Galilea und al Muerto so nennt. Und ich sage, dass dieser Fluss nicht vom irdischen Paradies herkommt, sondern er entspringt und kommt aus unendlichen Ländern, vom südlichen Kontinent, von dem man bisher nichts wusste; doch ich bin mir sehr sicher, dass sich dort, wo ich es sagte, in Tierra de Gracia, das irdische Paradies befindet.“

Christoph Kolumbus (1451-1506, genuesischer Seefahrer. Er und die Besatzungen seiner Schiffe verirrten sich 1492 als vermutlich erste Europäer auf kleine Teile des Kontinents, der später nach dem florentinischen Seefahrer Amerigo Vespucci (1451-1512) benannt wurde. Damit legten sie den Grundstein für die Unterwerfung, Ausbeutung und Vernichtung der hier seit Urzeiten ansässigen Menschen und ihrer – teilweise „hoch entwickelten“ - Kulturen durch andere Europäer. Von seinem Nachnamen – auf Spanisch: Colón – rührt das Wort Kolonialismus her.) in einem Brief an die Spanische Krone von seiner dritten Karibikreise (1498-1500, Übersetzung von mir)

Der Blick des Kolumbus, der Amerika natürlich nicht „entdeckte“, wie es ein bis heute viel zu oft kolportiertes eurozentristisches Narrativ unhinterfragt behauptet, weil hier schon seit vielen Jahrtausenden andere, nicht-europäische Menschen lebten, ist in vielerlei Hinsicht bezeichnend für den Blick des Eroberers und Kolonialisten auf fremde Länder. Tierra de Gracia nennt er einen Landstrich im heutigen Venezuela, dessen immense Ausbreitung in Richtung Süden er – wenn auch wahrscheinlich aus einer Mischung aus Wunschdenken und Intuition heraus – schon ganz richtig einschätzte. Dem Sinne nach, wie er es wohl gemeint hat, bedeutet das „Land der Gnade“. Doch es erscheint mir wichtig darauf hinzuweisen, dass das Wort „gracia“ wohl auch schon im Spanischen am Ende des 15. Jahrhunderts verschiedene Bedeutungen hatte, nämlich außerdem unter anderem: „Liebreiz“, „Lieblichkeit“ oder „Anmut“. Alles Attribute, die in patriarchalen Geschlechterrollen mit Weiblichkeit verbunden sind. Man denke hier auch an die „Maria voll der Gnade“ aus dem Gebet, deren Funktion letztlich nur darin besteht, den Messias zu gebären: „die Frucht deines Leibes, Jesus“ und deren Namen auch eines der drei Schiffe von Kolumbus erster Expedition trug – was wiederum auf die Aufgabe der Frau verweist – und sei sie auch noch so „gebenedeit … unter den Frauen“ - dem Mann sehr buchstäblich zu dienen, sie zum bloßen Werkzeug seines Entdecker- und Eroberer-Triebs macht.
(Die anderen beiden Schiffe hießen übrigens "Niña" ("Mädchen") und "Pinta" ("Oberfläche"). Der Seefahrer wird zum Patriarchen, der über eine Flotte aus (Gottes)Mutter, Tochter und (Erd)Oberfläche - also "Natur" - gebietet. Sparen wir es uns an dieser Stelle daraufhinzuweisen, was die - wie er selbst  entschuldigend einräumte - sehr stereotype Symbolentschlüsselung der Freud'schen Traumdeutung zu der Angewohnheit der Männer sagen würde, ihren Schiffen Frauennamen zu geben.)

Natürlich verdichtet sich das im obigen Zitat in dem Bild der Erde wahlweise als Birne oder als Ball mit Frauenbrust, wobei das spanische Wort „pezón“ heute tatsächlich sowohl eine Brustwarze als auch den Stiel einer Frucht bezeichnen kann; ob das schon zu Kolumbus‘ Zeiten so war, ist schwer nachzuvollziehen, der Original-Wortlaut des Zitats legt aber eher nahe, dass es sich um eine interessante sprachliche Verschiebung in den letzten Jahrhunderten handelt: vom Stiel auf die Brustwarze, die schon einer ihrer Funktionen nach auf Mütterlichkeit verweist, dabei sei auch nochmals an die „Leibesfrucht“ aus dem „Ave Maria“ erinnert (natürlich sollte auch berücksichtigt werden, dass der polyglotte Seefahrer nicht in seiner Muttersprache schrieb, und sich deshalb der Doppeldeutigkeit des Wortes nicht bewusst gewesen sein könnte).

Die fremde Erde als Frau wird durch die Verschränkung von Birne und weiblicher Brust zunächst verdoppelt – im Sinne der Gleichsetzung von Frau und Natur – und bekommt dann noch eine weitere Komponente: die fremden Länder als eine Frucht, die vom männlichen europäischen Eroberer gepflückt werden will – wobei es wiederum wichtig ist anzumerken, dass das spanische Wort „conquistar“ sich heute ähnlich wie im Deutschen auch auf sexuelle „Eroberungen“ beziehen kann. Die Verschränkung von Natur/Frau/Mütterlichkeit macht den „Entdecker“ damit gleichermaßen zum Subjekt von Blick und Penetration, dessen Samen benötigt wird - bleiben wir im Maria-Bild ist es ein göttlicher - , damit aus den „jungfräulich“ vor ihm liegenden Ländern etwas entstehen, geboren werden kann. Und das Recht, den „entdeckten“ Ländern einen Namen zu geben, ist dann auch das des Vaters, der sein Kind benennt – hierbei sei auch an das Bild des Balles erinnert, das einen Bezug zu Kindlichkeit herstellt. Schließlich sei bei der Benennung des Kontinents durch die Europäer in diesem Kontext auch die Verschiebung von der im Spanischen und Italienischen meist für männliche Namen und Substantive verwendeten Endung -o auf die meist weibliche -a verwiesen, vom Mann Amerigo auf das weibliche América. Auch an dieser Stelle geht die Rede von einer „Neuen Welt“ natürlich den Dichotomien aus Mann/Frau, Kolonialist/kolonisierte Länder, männlichem Erzeuger/Jungfrau in all ihrer infamen Logik auf den Leim.

Und auf diesem Land voll der Gnaden soll sich dann schließlich also auch noch das Paradies auf Erden befinden, das wiederum nur darauf wartet, so darf man wohl annehmen, vom irdischen Manneswesen entdeckt und kolonisiert zu werden. Muss hier zum Abschluss noch an die immense Bedeutung für das spätere Seelenleben des Menschen, die die Psychoanalyse dem Aufenthalt im Mutterleib und der Stillzeit beimisst (nach Freud nehmen alle religiösen Vorstellungen und „Gefühle“ hier ihren Ausgang und Otto Rank schrieb 1924 ein Buch über „Das Trauma der Geburt“), um zumindest gut begründet mutmaßen zu dürfen, welche Phantasie sich hinter der ausnehmend bizarren Metaphorik unseres Colón-ialisten versteckt?

Mittwoch, 26. Dezember 2018

Allerlei Geschlechter-Ambivalenzen

In seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie nimmt Freud die für den heutigen Feminismus und die Gender-Theorie so wichtige Unterteilung von biologischem und soziologischem Geschlecht vorweg und ergänzt es sogar noch darum, dass er eine dritte Kategorie hinzunimmt, die er Aktivität/Passivität nennt - und die, so merkt er sinngemäß an, der schwammige Begriff Geschlecht, wie er allgemeinhin verwendet wird, alle als eins ansehen wollen. So weit, so sehr gut.
In Einige psychische Folgen des anatomische Geschlechtsunterschieds, einem relativ kurzen Aufsatz von 1925, schreibt er:  "daß alle menschlichen Individuen infolge ihrer bisexuellen Anlange und der gekreuzten Vererbung männliche und weibliche Charaktere in sich vereinigen, so daß reine Männlichkeit und Weiblichkeit theoretische Konstruktionen bleiben mit ungesichertem Inhalt." So weit, so wunderbar.

Dennoch zeigt besagter Aufsatz auch sehr exemplarisch einen anderen Freud, der patriarchal und - mehr oder minder latent, aber eigentlich nicht allzu sehr - auch misogyn ist. Ich denke, dass dabei der Zusammenhang zwischen Freuds Auffassung, dass das Mädchen "kastriert" sei, ein Mangel-Wesen also, die er dem Mädchen selbst zuschreibt, was ich allerdings für nichts weiter als eine Projektion halte: nicht sie, sondern er hält sie für kastriert, mit tendenziell ablehnenden Einstellungen gegenüber dem weiblichen Geschlecht einhergeht. So meint er durch seine Theorien gewisse "Charakterzüge",  erklären zu können, "die die Kritik seit jeher dem Weibe vorgehalten hat, daß es weniger Rechtsgefühl zeigt als der Mann, weniger Neigung zur Unterwerfung unter die großen Notwendigkeiten des Lebens, sich öfter in seinen Entscheidungen von zärtlichen und feindseligen Gefühlen leiten läßt." Er fühlt sich auch dazu veranlasst, sich gleich im nächsten Satz gegen die "Feministen" zu verteidigen, "die uns eine völlige Gleichstellung und Gleichschätzung der Geschlechter aufdrängen wollen".

Sicherlich ist das, was an dieser Stelle von Freud bleibt, dass er die Geschlechter als ambivalent und nicht natürliche Gegebenheiten sah, letztlich wichtiger als seine Privat-Misogynie. Auch muss ich der Fairness halber sagen, dass er seine Aussage durch die von mir zuerst zitierte Aussage, die im Text auf die folgt, die ich danach zitierte, noch erheblich abschwächt. Aber dennoch: es bleiben auch hier Ambivalenzen. Denn der kurze Aufsatz zeigt exemplarisch, wie eine Auffassung, die ein Geschlecht nur als Mangel, nur in seiner Abweichung von dem anderen zu begreifen vermag, dieses letztlich dann auch geringschätzen muss.

Ach, Ambivalenz!

Dienstag, 25. Dezember 2018

Ödipus für Fortgeschrittene im Film "Y tu mamá también" (Regie Alfonso Cuarón, Mexiko, USA 2001)

Szene aus "Y tu mamá también", Copyright: Criterion

Zwei jugendliche Kinder (das eine lutscht seinen Lolli, das andere isst Schokolade) und eine Frau auf dem Weg zum Strand an der mexikanischen Pazifik-Küste. Die beiden sind Mexikaner, sie ist Spanerin, stammt also aus dem "Mutterland" der einstigen Kolonie. Später dann die vielfache Dekonstruktion machistischer Männlichkeit. Zuerst hat der eine Junge Sex mit ihr. Im Anblick der Sexualität der viel erfahreneren Frau wird er endgültig zum verstörten Kind, das keine Ahnung hat, was es da tut. Wenn er - viel zu früh - kommt, ruft er dabei erregt aus: "Mamacita", ein Diminutiv des Wortes Mamá, das im lateinamerikanischen Spanisch das gängige Wort für Mutter ist. Die Frau kann sich eines kleinen wissenden Lachens nicht erwehren. 

Der andere, der das mitbekam, empfindet ödipale Eifersucht: sein Freund hat mit der "Mutter" geschlafen, er nicht. Die Frau kennt nur ein Mittel, um die Spannungen zwischen den beiden Freunden, die nun erbitterte Rivalen um die sexuelle Gunst der "Mutter" werden, auszugleichen: sie schläft nun auch mit dem anderen, der sich dabei kaum geschickter und, nun ja, "standhafter" anstellt. Die Frau, die von Anfang an geschickt mit dem Begehren der beiden Jugendlichen spielte, die sie natürlich mit sexuellen Hintergedanken auf einen Trip zu einem erfundenen Strand namens Boca del cielo (dt.: "Mund des Himmels" bedarf dieser Phantasiename an dieser Stelle noch eines weiteren Kommentars?) mitnahmen, blickt nun etwas genervt, als auch er nach ca. dreißig Sekunden, den Kopf zwischen ihren Brüsten, zum Orgasmus gelangt. Doch es gibt da noch ein kleines Detail: die Reise führt letztlich tatsächlich an einen Strand, der den Namen Boca del Cielo trägt, von dessen Existenz die beiden Jugendliche nichts wussten. Die vaginalen Konnotationen des ausgedachten Namens, der sich später in der Realität manifestiert, machen die Geschichte zu der über eine Erfüllung einer Ödipus-Phantasie, bei der ihr Weg zurück in den Mutterleib führt, in dem Freud den Ausgangspunkt aller Paradiesvorstellungen, aller, so schreibt er wörtlich "religiösen Gefühle" sah. 

Die Auflösung des Beziehungsdreiecks ist dann eigentlich eine utopische, weil sie sowohl heteronormative als auch monogame Zwänge vorübergehend außer Kraft setzt: es kommt, nach ausgiebigstem Alkoholkonsum, zu einem Dreier, wobei entscheidend ist, dass der Film diese aus der Hetero-Mainstream-Pornographie redlich bekannte Phantasie bisexuell auflöst. Wo die Jugendlichen nun keine erbitterten Rivalen mehr um die Gunst der "Mutter" sind, sondern sie sich - und einander - einfach teilen, manifestiert sich dieser Moment sexueller Freiheit nicht zuletzt darin, dass sie ihr Begehren nun wesentlich weniger ungestüm, lustvoller, sinnlicher ausleben können als zuvor.

Doch das homophobe Über-Ich einer machistischen Gesellschaft ist stärker. Lieber sehen sich zwei langjährige Freunde nie wieder, als sich einzugestehen, dass sie auch queeres Begehren in sich tragen  - und sich (nochmal) die Freiheit zu geben, es auszuleben. Die Jugend (Kindheit) ist vorbei, das bedeutet hier: dass das patriarchale Gesetz, dessen schärfste Waffe die Kastrationsdrohung ist, endgültig in Kraft tritt: kein Ödipus mehr und keine Homosexualität. Das heißt hier auch: keine Möglichkeit mehr seine Träume zu leben, seine Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen.

Wider den Freud'schen Fetisch: Eine anti-freudianische Szene aus dem Film "Tangerine" (Regie: Sean Baker, USA 2015)

Szene aus "Tangerine", Copyright: good!movies
Basierend auf einem Facebook-Post von Anfang März 2018:

Eine der schönsten freudianischen bzw. das ist in diesem Falle das tolle daran, antifreudianischen Szenen der Filmgeschichte:
Ein Patient von Onkel Sigmund berichtete ihm einmal von einem Traum, in dem er eine Frau beim Ausziehen beobachtete. Dann, so sagte er, fehlt etwas. Und meinte damit, dass er sich an ein Stück des Traums nicht erinnern könne. Der Analytiker aber, der das weibliche Genital - und mindestens ein Stück weit damit eben auch: die Frau - nur als Mangel begreifen konnte, meinte nun genau zu wissen WAS da "fehlte".
In TANGERINE nun holt ein Taxifahrer mit einem teuren Faible für transsexuelle Sexarbeiterinnen sich eine junge und merklich unerfahrene Cis-Prostituierte in sein Auto. Als er ihr in den Slip blickt, reagiert er zunächst entsetzt, dann aggressiv darauf, dass da etwas "fehlt". Es geht Baker nun gerade nicht darum, dass die "Pussy", wie es im Dialog in der Szene sicherlich mehr als einmal heißt, ein Mangel wäre, sondern der Schwanz ist hier auch einfach nur ein weiterer Fetisch.

Die Lacan'sche Psychoanalyse und Zwölf-Schritte-Gruppen

Sehr leicht überarbeiteter Facebook-Post vom 13. Dezember 2018

Das Prinzip von Monolog-Selbsthilfegruppen, in denen Eine/r für eine gewisse Zeit in die Runde spricht, ohne dass es ein direktes Feedback, Zwiegespräche oder eine Diskussion über das Gesagte geben würde - wie sie 1935 in Akron, Ohio zuerst von "Bill W." und "Dr. Bob" als Anonyme Alkoholiker gegründet wurde und wie es sie heute auf der ganzen Welt für verschiedenste Süchte und zwanghafte Verhaltensmuster gibt - entspricht ziemlich genau der Lacanschen Auffassung der Psychoanalyse, wenn er schreibt:
"Ob sie sich als Instrument der Heilung, der Berufsbildung oder der Tiefeninterpretation versteht, die Psychoanalyse kennt nur EIN Medium: das Sprechen des Patienten. Die Offensichtlichkeit dieser Tatsache entschuldigt nicht, dass man sie übergeht, denn jedes Sprechen appelliert an eine Antwort.
Wir werden zeigen, daß es, solange ein Zuhörer da ist, kein Sprechen ohne Antwort gibt, selbst wenn es nur auf ein Schweigen trifft, und dass gerade darin die zentrale Funktion des Sprechens in der Analyse liegt." (FUNKTION UND FELD DES SPRECHENS UND DER SPRACHE IN DER PSYCHOANALYSE, Hervorhebung im Original)
Nach der Auffassung von Bob und Bill geht es bei den AA darum, Erfahrung, Kraft und Hoffnung zu TEILEN. Was bedeutet das? Wenn jemand in den Gruppen über seine Erfahrungen spricht, die Kraft, mit ihnen anders umgehen zu können als er/sie es bislang konnte, was dann schließlich in die Hoffnung auf ein anderes Leben mündet, dann bietet das Anknüpfungspunkte für die anderen Gruppenteilnehmer*innen zur Identifikation, und zwar aus zwei Gründen:
1. Weil bei allen Unterschieden im Hinblick auf Alter, Race, Gender, sozialen Background, etc. die gemeinsame Krankheit - sei es die Sucht nach Alkohol oder anderen Substanzen, eine pathologischen Form der Abhängigkeit von anderen Menschen, zwanghaftes Verhalten im Hinblick auf Sexualität und amouröse Beziehungen, Nahrungsaufnahme, etc.- eine Basis gemeinsamer Erfahrungen schafft.
2. mag so trivial erscheinen, dass es viel zu oft übergangen wird: alle, die in diesen Gruppen sprechen oder zuhören sind Menschen, die hier einen Ort haben, um über das zu sprechen, was sie belastet, was auch ganz allgemeine Dinge sein können, die nicht nur etwas mit Suchterkrankungen zu tun haben müssen: angefangen von der überfüllten U-Bahn oder dem kaputten Computer bis zum Verlust geliebter Menschen.
Lacan schreibt an anderer Stelle: "Man kann das Spiegelstadium ALS EINE IDENTIFKATION verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus beimisst: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung." (Aufsatz zum SPIEGELSTADIUM, Hervorhebung im Original)
Wenn also, nach der Lacanschen Auffassung, das Ich, indem es sich mit einem seiner selbst äußerlichen Bild seiner Selbst identifiziert, an dem es eine Ganzheit bewundert, die es im Alter von ca. einem Jahr am eigenen Körper noch nicht spüren kann, zu einer ersten Auffassung seiner selbst gelangt, dann muss besagtes Spiegelstadium - ebenso wie der Ödipuskomplex bei Freud - für eine "gesunde" Entwicklung des so entstandenen Subjekts überwunden werden. Denn dieses Subjekt sucht in den Objekten seiner Umwelt nun weiterhin nur ein Abbild des Selbst, das wiederum der narzisstischen Selbstbestätigung dienen soll; im Du also nur das Ich.
Ich bin mit meiner Lacan-Lektüre noch nicht weit genug, um seine Ansicht über den Übergang des durch das Spiegelstadium begründeten Imaginäre in die symbolische Ordnung der Sprache, die aus diesem Dilemma durch die Möglichkeit der intersubjektiven Kommunikation einen Ausweg bietet, wirklich en detail zu kennen.
Eins jedoch weiß ich: Wer in einer Gruppe sitzt und über sich und seine/ihre Gefühle, Bedürfnisse, Zwänge, erfahrene und erlebte Freuden und Leiden spricht, um den anderen durch die Identifikation damit eine Hilfe zu bieten, die er/sie wiederum auch in der Identifikation mit den Anderen erfährt, was manchmal sein/ihr Leben retten kann, trachtet immer schon nach einer intersubjektiven Kommunikation, danach, das Spiegelstadium hinter sich zu lassen, um sich mit den anderen sprechenden und zuhörenden Subjekten verbinden zu können, indem er/sie Dinge mit ihnen TEILT (was AUCH, wie es das Sprichwort will, den Effekt haben kann, sie zu halbieren).
Er oder sie sucht nach einer Wahrheit, die jenseits von der des Ichs liegt, oder: wie es die spirituelle Auffassung der Zwölf Schritte-Gruppen formuliert: jenseits des Egos.
Der Zweite der Zwölf Schritte lautet (Hervorhebung von mir): "Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, GRÖßER ALS WIR SELBST, unsere geistige Gesundheit wieder herstellen kann."
Es erübrigt sich wohl, darauf hinzuweisen, dass das Anliegen einer "Wiederherstellung der geistigen Gesundheit", dem entspricht, das Lacan für die Psychoanalyse in der ersten der von ihm genannten Funktionen, formulierte.
Wichtig ist aber, darauf hinzuweisen, dass der Gott-Begriff der Zwölf Schritte-Gruppen ein ganz frei wählbarer ist; der Dritte Schritt lautet (Hervorhebung im Text): "Wir trafen eine Entscheidung unseren Willen und unser Leben der Fürsorge Gottes, SO WIE WIR IHN VERSTANDEN, anzuvertrauen."
Als atheistischer Mensch, als der ich erzogen wurde und der ich auch heute nach wohl so ziemlich jeder herkömmlichen Bedeutung des Wortes noch bin, ist diese Transzendenz (Gott, wie ich ihn verstehe) eine Lacansche Intersubjektivität, die ich mir als eine Essenz vorstellen möchte, die uns alle verbindet. Wir können uns das, wenn wir wollen, als eine weitere Verwandlung ausmalen, die die des Spiegelstadiums wohl nicht aufhebt, aber eben transzendiert.
Aus Ich werden Viele!

Fetischismus, (Kastrations)Angst, Differenz

Leicht überarbeite Form eines Facebook-Posts vom 13. Mai 2018

so Sonntagsgedanken:
Freud meinte, dass der Fetisch ein Phallusersatz sei, der an die Stelle des Penis' der Mutter gesetzt werde, um deren "Kastration" und somit die Möglichkeit der eigenen des männlichen Fetischisten zu negieren.
Wenn wir aber alle - wohl nur zu leicht nachvollziehbaren - Angstbesetzungen von der Kastration nehmen, was ist die Schwanzlosigkeit der Mutter/Frau dann mehr, als ein Marker von Differenz bzw. worauf bezieht sich die Angst dann letztendlich, wenn nicht auf das Anderssein der Anderen?
Daran knüpft sich die Frage, wenn wir alle gleich sind, was ist dann die Angst vor dem anderen anderes als Angst vor uns selbst?
Bzw. anders herum und noch einfacher: wenn wir alle anders sind, warum ähneln wir uns dann so sehr? Und wen müssten wir dann überhaupt noch fürchten?
Die zuverlässigste Antwort auf diese Fragen ist für mich die Lösung des Rätsels der Sphinx, die nur König Ödipus in einem über 2.500 Jahre alten Mythos finden konnte: "Es ist der Mensch."
Nur was bedeutet dann schon wieder dieses M.-Wort?

Zum Geleit



Ausgehend von einem Zitat von Frank Kafka werde ich an dieser Stelle einige Überlegungen über Freud und die Psychoanalyse niederschreiben. Als jemand, der sich während seines literaturwissenschaftlichen Studiums viel mit Freud beschäftigte, auch sehr therapierfahren ist, allerdings noch nie eine Psychoanalyse gemacht hat, bin ich im Hinblick auf die psychoanalytische Praxis ein Laie. Es wird hier also nur um geisteswissenschaftlich Überlegungen zu Freud und späteren Freud-Lektüren gehen. Teilweise werde ich dabei Facebook-Posts zum Thema, die ich vor allem in den letzten Monaten formulierte - in teilweise überarbeiteter - Form nach und nach eintragen. Da ich hauptsächlich als Filmjournalist arbeite, wird es dabei auch psychoanalytische Deutungen von Filmen geben.