Sonntag, 30. Dezember 2018

Einige Überlegungen zu den Befindlichkeiten in gewissen Diskursen der Gegenwart

1. Ich denke nicht, dass "politisch korrekt" ein Schimpfwort ist - oder zumindest: sein sollte.


2. Ich bin der festen Überzeugung, dass jede wichtige und richtige Kritik an diesen Diskursen - und insbesondere ihren teilweise wirklich etwas bizarren Auswüchsen - von links, niemals die Sprache der Rechten annehmen sollte (ich kann diese politischen Zuschreibungen auch immer weniger leiden, aber ich denke, ihr wisst, was und wen ich meine). Ein historisches Beispiel: der große Moralphilosoph Adorno war sicherlich nicht zimperlich in seiner Wortwahl, wenn es darum ging nach seiner Flucht vor den Nazis das Grauen dieser Welt, wie es sich ihm darstellte, anzuklagen. Wie ein Nazi hat er dabei definitiv NIE geredet. Er hatte ein großes und kritisches Bewusstsein für Sprache, so schrieb er in der MINIMA MORALIA etwa, sinngemäß, dass das grundfalsche am berühmten Nietzsche-Zitat: "Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht" schon mit dem Wort "Weib" beginne. Nur wenige Jahre nach Freuds Tod, der zwar ein wichtiger Vordenker der heutigen Gender-Theorie war, aber im Alter wohl oft kein allzu großer Fan des "anderen Geschlechts" - und diese Vokabel sehr gerne verwendete (mehr dazu siehe hier). Nochmal: es kommt darauf an, wer, was, wie sagt. Es herrscht bestimmt kein Mangel an Leitartikeln von gewissen (!)älteren, weißen Männern, die meinen sich über die Gender-Theorie brüskieren zu müssen. Wenn sie klug und gebildet genug wären - oder einfach nur das nötige Interesse an dem hätten, was sie kritisieren - um einen für diese grundlegenden Text wie GENDER TROUBLE zu lesen, würden diese Artikel vielleicht tatsächlich manchmal etwas weniger doof ausfallen. Denn Butler schreibt NICHT, dass es Gender nicht gibt, weil es eine soziale Konstruktion ist. Sie schreibt, dass jeder Mensch eins hat und es als solches wirkmächtig ist in unserem Leben - und es bis auf weiteres auch weiterhin sein wird und es wichtig ist, bestimmte subversive Strategien zu entwickeln, damit umzugehen. Zimperlich in ihrer Wortwahl ist auch sie dabei gewiss manchmal nicht, so wirft sie etwa Lacan - in für mich weder gerechtfertigter noch auch nur wirklich argumentativ nachvollziehbarer Art - eine quasi alttestamentarische "Sklavenmoral" vor (Anführungsstriche von ihr, aber trotzdem). Und mal im Ernst: zu behaupten, dass es etwas nicht gibt, weil es diskursiv und sozial konstruiert ist, macht für mich eben so wenig Sinn, wie zu behaupten, dass es ein Haus nicht gibt, weil es physisch konstruiert ist.

3. Dennoch merke ich, wie schwierig es für jemanden wie mich (geworden) ist, der diese Diskurse zwar im groben kennt, aber sich nur am Rande in ihnen bewegt (mich interessiert das Konzept "politisch korrekt" schlicht nicht allzu sehr, in welche Richtung auch immer), sich manchmal in bestimmten Gesprächen zu artikulieren. Wie kommt es an, jemanden - zu dem man das Vertrauensverhältnis hat, dass es der sozialen Situation angemessen macht - aus reiner Neugier oder auch tiefergehendem Interesse über bestimmte Dinge im Hinblick auf sein/ihr Geschlecht, seine/ihre sexuelle Orientierung, o ä. zu fragen, die nicht der eigenen entspricht? Wenn man selbst eine weiße, männliche Cis-Hete ist? 

4. Privilegien, für die man nichts getan hat (im positiven wie im negativen), anzuerkennen, halte ich für richtig und wichtig. Und dass trifft auf dieser unserer schönen Scheißwelt erstmal auf jeden zu, der nicht an Hunger, größter Armut oder vollkommener Perspektivlosigkeit leidet. Nicht Gefahr läuft, dafür wie er/sie nun mal ist, dort wo er/sie lebt, spezifischen Formen von Hass, Ausgrenzung und Gewalt zu begegnen. ABER letztlich sollte das Ziel von Identitätspolitik aller Art sein, dass die Menschen besser mit sich und einander klarkommen, nicht neue Grenzen und Hemmungen aufzubauen.

5. Ich bin als postkolonialistischer Geisteswissenschaftler der tiefen Überzeugung, dass das Leid der Welt, in der wir heute leben, 1492 begann, als die Europäer nur eins entdeckten, wie groß sie tatsächlich ist, so dass sie sie in den folgenden Jahrhunderten systematischer denn je unterjochen konnten. Die zutiefst rassistische und patriarchale Gewaltherrschaft, die sie damit errichteten, schadet(e) letztlich allen Menschen. Oder glaubt hier irgendjemand, dass die Konquistadoren, die bei ihrer besinnungslosen Jagd nach materiellen Schätzen oft in den unwirtlichsten Ecken dieser Erde, nicht nur über die ungezählten Leichen der Kolonisierten gingen, sondern auch ein ums andere Mal selbst komplett den Verstand verloren, glückliche Menschen waren? Eben.

6. Ein Beispiel dazu, wie mich diese Diskurse selbst- in diesem Fall meine Kunstrezeption - beeinflussen können. Vor einigen Wochen fing ich damit an, mich intensiv mit den verschiedenen A STAR IS BORN-Filmen zu beschäftigen. In der ersten offiziellen Version des Films von 1937 gibt es in den ersten zehn Minuten eine Szene, die mich derart brüskierte, dass ich ihn zunächst abschaltete und erst einige Tage später zu Ende sah. Darin erzählt die Großmutter der Protagonistin, die in ihrem Kaff davon träumt, ein Hollywood-Star zu werden, und in der älteren die einzige Verbündete darin hat, von ihrer Geschichte. Sie verherrlicht darin gnadenlos das Siedlertum und verflucht den "injun devil", der ihrem Mann eine Kugel durchs Herz gejagt - und damit auch das ihre gebrochen hat. Der Enkelin sagt sie: "There will always be a wilderness to conquer. Maybe Hollywood is your wilderness." Damit war ich erstmal raus. Das bedeutet, dass ich erst Tage später merkte, wie gnadenlos der Film in seiner restlichen Laufzeit das alles dekonstruiert: die Kolonialisten-Träume der Großmutter und am Ende auch die Figur selbst. Es geht um ein zutiefst patriarchales System, dass NIEMALS eine weibliche Erobererin zulassen würde. Vielmehr sind es die Träume der Protagonistin, die sie selbst zum Material machen, ihr Glück systematisch verunmöglichen. Nicht sie erobert Hollywood, sondern Hollywood kolonisiert ihre Seele, zwingt sie schließlich in die vollkommene Selbstaufgabe, die sie in der letzten Einstellung mit einer damals gängigen sexistischen und misogynen Formel artikuliert, in der die Frau nur zum Anhängsel des Mannes wird - und das hier noch über dessen Tod hinaus: "I'm Mrs. Norman Maine."
Es ist damit nicht nur ein feministischer Film, sondern - wenn man seine Metapher beim Wort nehmen möchte - auch ein postkolonialitistischer - wieder einmal lange bevor es das Wort gab - und zu einer Zeit als der europäische Kolonialismus in Afrika immer noch wütete. So progressiv kann ältere Kunst sein.

7. Und die Moral von der Geschicht': Der Ton macht die Musik, ja. Aber dennoch sollte man versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen. Abwarten und verstehen, wie etwas gemeint ist, statt sich zu sehr von bestimmten sprachlichen Reiz-Reaktionsschemata leiten zu lassen.

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