Donnerstag, 27. Dezember 2018

Eine „Urszene“ des Kolonialismus am Ende des Fünfzehnten Jahrhunderts


Ich glaubte immer, dass die Welt rund sei; die Obrigkeiten und Erfahrungen des Ptolomäus und aller anderen, die über dieses Thema geschrieben haben, gaben als Beweise die Mondfinsternis und andere Indizien von Osten bis Westen, wie etwa die Erhöhung des Nordpols im Südwind. Doch jetzt habe ich so viele Verformungen gesehen, dass ich, wenn ich an sie denke, nicht mehr glaube, dass die Welt rund ist, wie sie es beschrieben haben, sondern die Form einer Birne hat, die rund wäre, außer dort, wo sie den Stiel oder den höchsten Punkt hat; oder wie ein runder Ball, der etwas wie eine Frauenbrust an der Stelle hätte, wo sich das Land am höchsten erhebt und dem Himmel am nächsten ist. In dieser Region unter der Äquinallinie, im ozeanischen Meer, wo alle Länder und Inseln aufhören.
Diese Annahme beruht auf meiner Kenntnis der Tierra de Gracia, des Flusses und Sees, die ich dort entdeckte, so groß, dass man ihn eher Meer als See nennen sollte, denn ein See ist ein Ort aus Wasser, und wenn er groß ist, nennt man ihn Meer, weswegen man die von Galilea und al Muerto so nennt. Und ich sage, dass dieser Fluss nicht vom irdischen Paradies herkommt, sondern er entspringt und kommt aus unendlichen Ländern, vom südlichen Kontinent, von dem man bisher nichts wusste; doch ich bin mir sehr sicher, dass sich dort, wo ich es sagte, in Tierra de Gracia, das irdische Paradies befindet.“

Christoph Kolumbus (1451-1506, genuesischer Seefahrer. Er und die Besatzungen seiner Schiffe verirrten sich 1492 als vermutlich erste Europäer auf kleine Teile des Kontinents, der später nach dem florentinischen Seefahrer Amerigo Vespucci (1451-1512) benannt wurde. Damit legten sie den Grundstein für die Unterwerfung, Ausbeutung und Vernichtung der hier seit Urzeiten ansässigen Menschen und ihrer – teilweise „hoch entwickelten“ - Kulturen durch andere Europäer. Von seinem Nachnamen – auf Spanisch: Colón – rührt das Wort Kolonialismus her.) in einem Brief an die Spanische Krone von seiner dritten Karibikreise (1498-1500, Übersetzung von mir)

Der Blick des Kolumbus, der Amerika natürlich nicht „entdeckte“, wie es ein bis heute viel zu oft kolportiertes eurozentristisches Narrativ unhinterfragt behauptet, weil hier schon seit vielen Jahrtausenden andere, nicht-europäische Menschen lebten, ist in vielerlei Hinsicht bezeichnend für den Blick des Eroberers und Kolonialisten auf fremde Länder. Tierra de Gracia nennt er einen Landstrich im heutigen Venezuela, dessen immense Ausbreitung in Richtung Süden er – wenn auch wahrscheinlich aus einer Mischung aus Wunschdenken und Intuition heraus – schon ganz richtig einschätzte. Dem Sinne nach, wie er es wohl gemeint hat, bedeutet das „Land der Gnade“. Doch es erscheint mir wichtig darauf hinzuweisen, dass das Wort „gracia“ wohl auch schon im Spanischen am Ende des 15. Jahrhunderts verschiedene Bedeutungen hatte, nämlich außerdem unter anderem: „Liebreiz“, „Lieblichkeit“ oder „Anmut“. Alles Attribute, die in patriarchalen Geschlechterrollen mit Weiblichkeit verbunden sind. Man denke hier auch an die „Maria voll der Gnade“ aus dem Gebet, deren Funktion letztlich nur darin besteht, den Messias zu gebären: „die Frucht deines Leibes, Jesus“ und deren Namen auch eines der drei Schiffe von Kolumbus erster Expedition trug – was wiederum auf die Aufgabe der Frau verweist – und sei sie auch noch so „gebenedeit … unter den Frauen“ - dem Mann sehr buchstäblich zu dienen, sie zum bloßen Werkzeug seines Entdecker- und Eroberer-Triebs macht.
(Die anderen beiden Schiffe hießen übrigens "Niña" ("Mädchen") und "Pinta" ("Oberfläche"). Der Seefahrer wird zum Patriarchen, der über eine Flotte aus (Gottes)Mutter, Tochter und (Erd)Oberfläche - also "Natur" - gebietet. Sparen wir es uns an dieser Stelle daraufhinzuweisen, was die - wie er selbst  entschuldigend einräumte - sehr stereotype Symbolentschlüsselung der Freud'schen Traumdeutung zu der Angewohnheit der Männer sagen würde, ihren Schiffen Frauennamen zu geben.)

Natürlich verdichtet sich das im obigen Zitat in dem Bild der Erde wahlweise als Birne oder als Ball mit Frauenbrust, wobei das spanische Wort „pezón“ heute tatsächlich sowohl eine Brustwarze als auch den Stiel einer Frucht bezeichnen kann; ob das schon zu Kolumbus‘ Zeiten so war, ist schwer nachzuvollziehen, der Original-Wortlaut des Zitats legt aber eher nahe, dass es sich um eine interessante sprachliche Verschiebung in den letzten Jahrhunderten handelt: vom Stiel auf die Brustwarze, die schon einer ihrer Funktionen nach auf Mütterlichkeit verweist, dabei sei auch nochmals an die „Leibesfrucht“ aus dem „Ave Maria“ erinnert (natürlich sollte auch berücksichtigt werden, dass der polyglotte Seefahrer nicht in seiner Muttersprache schrieb, und sich deshalb der Doppeldeutigkeit des Wortes nicht bewusst gewesen sein könnte).

Die fremde Erde als Frau wird durch die Verschränkung von Birne und weiblicher Brust zunächst verdoppelt – im Sinne der Gleichsetzung von Frau und Natur – und bekommt dann noch eine weitere Komponente: die fremden Länder als eine Frucht, die vom männlichen europäischen Eroberer gepflückt werden will – wobei es wiederum wichtig ist anzumerken, dass das spanische Wort „conquistar“ sich heute ähnlich wie im Deutschen auch auf sexuelle „Eroberungen“ beziehen kann. Die Verschränkung von Natur/Frau/Mütterlichkeit macht den „Entdecker“ damit gleichermaßen zum Subjekt von Blick und Penetration, dessen Samen benötigt wird - bleiben wir im Maria-Bild ist es ein göttlicher - , damit aus den „jungfräulich“ vor ihm liegenden Ländern etwas entstehen, geboren werden kann. Und das Recht, den „entdeckten“ Ländern einen Namen zu geben, ist dann auch das des Vaters, der sein Kind benennt – hierbei sei auch an das Bild des Balles erinnert, das einen Bezug zu Kindlichkeit herstellt. Schließlich sei bei der Benennung des Kontinents durch die Europäer in diesem Kontext auch die Verschiebung von der im Spanischen und Italienischen meist für männliche Namen und Substantive verwendeten Endung -o auf die meist weibliche -a verwiesen, vom Mann Amerigo auf das weibliche América. Auch an dieser Stelle geht die Rede von einer „Neuen Welt“ natürlich den Dichotomien aus Mann/Frau, Kolonialist/kolonisierte Länder, männlichem Erzeuger/Jungfrau in all ihrer infamen Logik auf den Leim.

Und auf diesem Land voll der Gnaden soll sich dann schließlich also auch noch das Paradies auf Erden befinden, das wiederum nur darauf wartet, so darf man wohl annehmen, vom irdischen Manneswesen entdeckt und kolonisiert zu werden. Muss hier zum Abschluss noch an die immense Bedeutung für das spätere Seelenleben des Menschen, die die Psychoanalyse dem Aufenthalt im Mutterleib und der Stillzeit beimisst (nach Freud nehmen alle religiösen Vorstellungen und „Gefühle“ hier ihren Ausgang und Otto Rank schrieb 1924 ein Buch über „Das Trauma der Geburt“), um zumindest gut begründet mutmaßen zu dürfen, welche Phantasie sich hinter der ausnehmend bizarren Metaphorik unseres Colón-ialisten versteckt?

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