Ferenczis Essay „Männlich und weiblich" (Exzerpt aus einem Vortrag, gehalten vor der Ungarländischen Psychoanalytische Vereinigung, 1929, hier zitiert nach: Sándor Ferenczi: „Zur Erkenntnis des Unbewußten und andere Schriften zur Psychoanalyse", herausgegeben und mit einem Vorwort von Helmut Dahmer, Kindler Taschenbücher, München 1978, S. 272-238) besticht nicht zuletzt dadurch, dass er einen guten Überblick über das progressive Moment psychoanalytischer Geschlechterforschung gibt, aber zugleich dessen Grenzen sichtbar macht, aufzeigt, wo der Geschlechterdiskurs der Psychoanalyse sowohl seiner Zeit, als auch dem, was man, wenn man möchte, den „männlichen Blick“ nennen könnte, verhaftet bleibt. Wobei das entscheidende ist, dass der Blick des männlichen Analytikers auf „die Frau“ nicht weiter reflektiert wird.
Die Stärke des Aufsatzes liegt darin, dass Ferenczi Freuds Ansichten zur ursprünglichen (physischen und psychischen) Bisexualität des Menschen, nicht nur mit anderen biologischen Konzepten kurzschließt, etwa Haeckels „biogenetischem Grundgesetz“, nach dem die Entwicklung des Individuums die der Art vereinfacht und in groben Zügen nachvollzieht (234). Aber auch da, wo er ganz der Psychoanalyse verhaftet bleibt, denkt er Freud im gewissen Maße weiter, etwa in der Feststellung, dass sich nicht nur das ursprünglich bisexuelle Kind erst zu „Mann" oder „Frau" entwickeln „muss" (der in meiner Wortwahl anklingende Zwang wird weder von Freud noch von Ferenczi wirklich explizit aufgezeigt - auch wenn sie sicherlich eine gute Grundlage dessen bietet, was bei Judith Butler später „compulsory heterosexuality" heißt). Sondern, dass diese am Anfang des Menschenlebens herausgebildeten Geschlechtsunterschiede an dessen Ende sich wieder zunehmend auflösen: „In höherem Alter verwischen sich wieder einigermaßen die Geschlechtsunterschiede. Offenbar infolge der Rückbildung der Geschlechtsdrüsen wird die Stimme der Frau etwas rauher, hier und da zeigt sich auch der Ansatz eines Schnurrbarts. Aber auch der Mann büßt manches von seiner männlichen Erscheinung und seinem Charakter ein, man kann also sagen, daß die doppelgeschlechtliche Anlage in der Kindheit und im Greisenalter bei beiden Geschlechtern durchsichtiger wird." (237) (Tue ich mich immer schwer, die ursprünglichen psychoanalytischen Texte von der Gender-Theorie, die zu bedeutendem Teil auf ihr aufbauen, und die ich oft viel früher gelesen habe, zu trennen, kommt mir hier sofort Butlers Dichotomie „human being vs. genderd being" in den Sinn: der ausgewachsene Mensch ist so sehr ein gegendertes Wesen, dass nur da, wo er erst noch werden muss oder schon im Vergehen begriffen ist, die Geschlechterbinarität brüchig sein kann.)
„Männliche Erscheinung und Charakter" sind gute Stichworte, um zur anderen, der reaktionären Seite des Aufsatzes überzugehen. Trotz im einzelnen sehr schlüssiger Reisen durch die Geschichte des Individuums und der Art (Diedrich Diederichsen nennt das in seinem frühen Meisterwerk „Sexbeat“ den „Schlamassel von Ontogenese und Phylogenese"), einer insgesamt sehr überzeugenden Verbindung der wissenschaftlichen Disziplinen Psycho- und Biologie (für die er schlüssigerweise den Begriff der „Bioanalyse" prägt, 233), verfällt Ferenczi letztlich immer wieder doch auf ein - gelinde gesagt - ziemlich angestaubtes Bild der Geschlechter und ihres Verhältnisses, das seinen Ausgang wohl tatsächlich in der falschen Frage nimmt, welches „der beiden [sic] Geschlechter höher- bzw minderwertig sei". Die falschen Antworten darauf sind schnell zur Hand: „Das Weib ist angeborenerweise klüger und besser als der Mann, dafür muss der Mann seine Brutalität durch stärkere Entwicklung der Intelligenz und des moralischen Über-Ichs im Zaum halten. Das Weib ist feinfühliger (moralischer) und feinsinniger (ästhetischer) als der Mann und hat mehr „gesunden Menschenverstand" - aber der Mann schuf, vielleicht als Schutzmaßregel gegen die eigene größere Primitivität, die strengen Regeln der Logik, Ethik und Ästhetik, über die sich das Weib im Gefühle der inneren Verläßlichkeit leichter hinwegsetzt. Ich meine aber, daß die organische Anpassung des Weibes nicht minder bewundernswert ist, als die psychologische des Mannes.“ (236)
Aha.
Dazu kommen die von Freud leidlich bekannten Biologismen, in denen nur zu schnell und bereitwillig vom Tier auf den Menschen geschlossen wird, was bei Ferenczi etwa zu Schlüssen wie dem führt, dass der „erste Genitalakt […] auch beim Menschen noch ein blutiger Angriff [ist], dem sich das Weib instinktiv widersetzt, um sich schließlich damit abzufinden, ja, darin Vergnügen und Glück zu finden." (234)
Darüber hinaus phantasiert Ferenczi noch „tertiäre Geschlechtsmerkmale" (236) hinzu. Während der Mann sich mit Agressivität in den Geschlechterkampf begibt, bleiben der Frau „nur Schönheit als Kampfmittel, [...] sie bleibt aber ansonsten durch Güte und Schamhaftigkeit gekennzeichnet.“ (ebd.) Ersparen wir es uns an dieser Stelle, den Analytiker zu analysieren - etwa indem wir seine scheinbaren Minderwertigkeitsgefühle gegenüber der Frau in ein dialektisches Verhältnis zu seiner (kaum verhohlenen) Misogynie setzen.
Stattdessen möchte ich lieber schließen mit der Bemerkung, dass das, was diesen insgesamt schönen, insbesondere sehr kompakten Aufsatz, der auf kleinem Raum durchaus schlüssige große Bögen durch Ontogenese und Phylogenese spannt, - und vielleicht, mindestens ein gutes Stück weit: die Psychoanalyse überhaupt - so faszinierend macht. In diesem Essay, vier Jahre vor dem Tod Ferenczis, zehn Jahre vor dem Freuds entstanden, findet sich letztlich bereits alles, was feministisch/poststrukturalistische Nachfahrinnen Freuds im Geiste bräuchten, um Geschlecht (sex UND gender) als im Leben jedes Menschen wirkmächtige, in vielem zerstörerische Kategorien zu begreifen. Aus einem ursprünglich bisexuellen Wesen wird ein „gegendertes“, dass sich in die relativ starren Kategorien „Mann“ und „Frau" passen muss. Anstatt die Kategorien selbst aber zu hinterfragen und ihre Konstruktion als gesellschaftliche zu begreifen (was eben immer auch impliziert, dass das von Menschen gemachte, auch von Menschen anders gemacht werden kann bzw. könnte), flüchtet sich Ferenczi schließlich in den Biologismus und das „Männer sind so, Frauen sind so“.
Ganz so, als schreckte er vor dem Weg, den das progressive Moment des psychoanalytischen Menschenbilds eröffnen könnte, dann doch im letzten Moment zurück, um lieber die Abzweigung zu reaktionärem Quatsch zu nehmen, der sowohl die Kategorien „Mann" und „Frau" an sich als auch die gesellschaftlichen Realitäten, die sie (mit)determinieren unangetastet lässt. Und doch: ein anderer Weg ist in diesem Aufsatz so komplett vorgezeichnet, dass wir nur noch die reaktionären Schlüsse aussortieren müssen, um ihn zu gehen.