Und wenn mit
Kolumbus erster Irrfahrt über den Atlantik 1492 die neuzeitlichen
Gemetzel begannen, dann ist es bezeichnend, dass er auf seiner
vierten und letzten Reise (1502-1504) wenige Jahre vor seinem Tod
einmal lapidar, vielleicht auch resigniert feststellte: „Die Welt
ist klein.“ Denn dieser Satz aus seiner Feder ist als sich
selbsterfüllende Prophezeiung sein Vermächtnis an die Menschheit
nach ihm, sorgte die Erkenntnis unserer europäischen Vorfahren, wie
groß die Welt tatsächlich ist, doch dafür, dass sie sie nun als
Ganzes klein machen konnten, indem sie sie einem einzigen
mörderischen System unterwarfen: der Hegemonie des
Geldes. Die Herkunft des Wortes „Kolonialismus“, das auf seinen
spanischen Nachnamen Colón zurückgeht, ist hier deshalb hilfreich,
weil es schon vorm ausgehenden Fünfzehnten Jahrhundert
imperialistische Riesenreiche in verschiedenen Ecken der Welt gab, z.
B das der Inka in Südamerika, deren Dynastie zeitweise unzählige
verschiedene ethnische Gruppen auf einem Gebiet unterwarf, dass sich
über den größten Teil Südamerikas erstreckte, und doch markiert
das Jahr 1492 eben den Beginn der Eroberung fast der gesamten
restlichen Welt durch Europa.
Dabei spiegelt sich die globale
Unterjochung der Vielen durch die Wenigen bis heute im Kleineren und
Kleinsten: in faschistischen und möchtegern-kommunistischen
Schurken-Staaten und -Reichen ebenso wie in – wenn auch in
vielfacher Weise abgemildert – demokratischen Nationalstaaten, in
jedem größeren kapitalistischen Unternehmen genauso wie in der
patriarchal organisierten Familie. Immer gilt es dabei zu
berücksichtigen, was Horkheimer und Adorno schrieben: „Die
Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von
dem, worüber sie die Macht ausüben.“ Und: „Nicht bloß mit der
Entfremdung von dem beherrschten Objekt wird für die Herrschaft
bezahlt: Mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen
der Menschen selber verhext, auch die jedes einzelnen zu sich.“
Immer wieder gilt es der Worte Georg Christoph Lichtenbergs zu
Gedenken, mit denen er bereits im Achtzehnten Jahrhundert das
Narrativ von der „Entdeckung Amerikas“ in all seiner
eurozentristischen Arroganz auf den Kopf stellte und in deren Spott
so viel Wahrheit liegt: „Der Amerikaner, der Kolumbus zuerst
entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“
Es scheint mir an
dieser Stelle unerlässlich, diesen Exkurs unter Zuhilfenahme der
Psychoanalyse noch etwas auszuweiten, um schließlich auf mich zurückkommen zu können. Die Mutter
aller Ressentiments – aus denen dann all die menschenfeindlichen
-ismen mitsamt ihrer gewalttätigen Auswüchse bis hin zum Genozid
entstehen können – ist die Angst. Nach Freud ist diese dem
Menschen etwas sehr buchstäblich angeborenes, nimmt sie doch ihren
Ausgang seiner Ansicht nach nicht nur etymologisch – das
lateinische Wort „angustiae“ bedeutet „Enge“ oder „Engpass“
- beim Weg durch den Geburtskanal. Gleichzeitig bezieht sich alle
Angst auf das Unbekannten, dessen reinste Essenz der Tod ist. Kehren
wir ein letztes Mal zu unserem genuesischen Seefahrer zurück, der in
seinem „Ersten Brief aus der Neuen Welt“ die Spanische Krone
davon in Kenntnis setzte, dass er den Berichten der Menschen auf den
von ihm „entdeckten“ Inseln entnehmen könne, dass es auf einer
davon, Cariba, Menschen gäbe, die Caniba oder Canima, die
menschliches Fleisch verzehren würden.
Daraus ging nicht
nur das Wort „Kannibalen“ hervor, sondern zugleich die
neuzeitlichen Vorstellungen von ihnen bis in die westliche
Populärkultur des Zwanzigsten Jahrhunderts (aber mindestens in
reflektierter „ironischer“ Form bis in unsere Gegenwart); im in
den späten Siebziger und Achtziger Jahren florierenden
Exploitation-Genre des Kannibalenfilms, in dem westliche Menschen in
entlegenen und unerforschten Urwäldern der Welt Gefahr laufen, von
indigenen Stämmen aufgefressen zu werden oder der Darstellung von
„Wilden“ mit Lendenschurz und Knochen im Haar, die sich in ihren
Kesseln humane Mahlzeiten zubereiten in früheren Cartoons. Dabei
findet sich das Unbekannte, das Ausmaß der Alterität im Hinblick
auf die Menschenfresser, nicht zuletzt dadurch markiert, dass man von
Anbeginn an – doch auch das setzt sich wohl teilweise bis heute
fort – von ihrer Existenz immer nur aus zweiter Hand, vom
Hörensagen weiß. Da die InsulanerInnen Kolumbus aber aufgrund der
Sprachbarriere weder das noch irgendetwas anderes berichten konnten,
darf gemutmaßt werden, dass sie ein Produkt seiner Phantasie waren.
Otto Rank schrieb
1924 unter anderem auf Freuds Überlegungen zur Entstehung der Angst
aufbauend ein Buch über „Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung
für die Psychoanalyse“. Einen Beleg seiner These, dass aller Eros
letztlich danach trachte, in den Mutterleib zurückzukehren und
somit eine Art Ur-Symbiose wiederherzustellen, fand er im Mythos in
Platons „Das Gastmahl“ (4. Jahrhundert v. Chr.), der besagt, dass
die Menschen ursprünglich ein kugelrundes „männlich-weibliches“
Geschöpf gewesen seien, die zur Strafe für ihre Auflehnung gegen
die Götter in zwei Hälften geschnitten und dabei zugleich in Männer
und Frauen unterteilt wurden. Alle sexuelle Begegnung sei danach der
Versuch „eins aus zweien zu machen und die menschliche Natur zu
heilen.“ Der Tod dadurch, von den Fremden aufgefressen zu werden,
somit zugleich ganz direkt in einen menschlichen Leib zurückzukehren
und die Ur-Trennung von Subjekt und Objekt aufzuheben, wird dann
nicht nur als eine Phantasie lesbar, in der sich Angst und Lust,
Todestrieb (oder auch Todessehnsucht) und Libido vermengen, sondern
vielleicht spricht aus dieser dann auch die unbewusste – in
Aggression verkehrte und auf das Gegenüber projizierte –
Sehnsucht, sich mit den Fremden verbinden zu können, denen die
kastilischen Schiffe letztlich Versklavung, Assimilierung und Tod
brachten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen