Donnerstag, 3. Januar 2019

Bolivien

Überarbeitung und Erweiterung eines Facebook-Posts vom 23. 12. 2018

In Carl Schenkels spätem Meisterwerk TARZAN AND THE LOST CITY, den ich auf Letterboxd als "postkolonialistisch humanistischen Kintopp" bezeichnete, geht es u. a. um die Schwierigkeit der Titelfigur in einer kolonialen Gesellschaft, der seine Herkunft bekannt ist, Anerkennung zu finden, obwohl seine Haut weiß ist. Was sagt uns das? Dass das Konstrukt Race in erster Linie ein soziales ist, bei dem die Hautfarbe nur als äußere Markierung funktioniert. Sprich: man verachtet den anderen nicht (hauptsächlich) dafür, dass er schwarz ist, sondern dafür, dass er aus dem Urwald kommt und von Affen(Menschen) groß gezogen wurde.
Allerdings liegt die Sache in heutigen kapitalistischen Gesellschaften oft noch etwas komplizierter. Ein fiktives aber auf eigenen Erfahrungen beruhendes Beispiel dazu: Ich habe lange in Bolivien gelebt, dem zweitärmsten Land der westlichen Hemisphäre. Auf der Internet-Seite Bolivien.de heißt es: „Derzeit leben 10,5 Millionen Menschen in Bolivien. Etwa 60% davon sind Indígenas, also Nachfahren der Urbevölkerung, überwiegend der Aymara und Quechua. Somit ist Bolivien in Südamerika das einzige Land, welches zum größeren Teil noch indigene Gruppen besitzt. Dazu gehören die Chiquitanos, die Guaraní, die Moxeños und die Afro-Bolivianer. 26% der Bevölkerung sind Mestizen (ein Elternteil indigen, das andere weiß) und lediglich 14% sind Weiße (Nachfahren europäischer Einwanderer oder Mennoniten), wovon der Großteil spanisch-stämmig ist.“

Ich selbst verkehrte überwiegend in der - manchmal oberen – Mittelschicht in den großen Städten des Landes. Ethnisch betrachtet waren die meisten Menschen, die mich dort umgaben, Mestizen, was man vielleicht so verbildlichen könnte: für bolivianische Verhältnisse waren sie relativ hellhäutig, würde man ihnen aber hier auf der Straßen begegnen, hätte das geschulte Auge keine großen Probleme zu erkennen, dass sie aus Südamerika stammen. Mir ist in meiner Zeit dort viel Rassismus aufgefallen, der sehr unterschiedliche Ausprägungen hatte. Ich selbst, als jemand der zur Zeit, als er immer wieder dieses Land bereiste, in Deutschland studierte, für hiesige Verhältnisse also nicht viel Geld hatte, für dortige aber schon, war der „gringo“, ein Wort, das einen weißen Europäer oder Nordamerikaner bezeichnet, pejorativ muss es nicht zwangsläufig sein, eine Markierung ist es aber selbstverständlich immer. Zum Glück ist es mir nur sehr selten passiert, dass ich direkt für mein Äußeres angefeindet wurde, also zum Beispiel als „gringo de mierda“ („Scheiß-Gringo“) - die zwei Male, an die ich mich erinnere, in denen das geschah, kam die Anfeindung von armen Indigenen (ich sage vorsichtshalber dazu, dass mir die meisten Menschen dort unabhängig von ihrem und meinem Aussehen mit großem Respekt begegneten). Die pejorativen Begriffe „indio“ oder „chola“ hört man hingegen öfters und oft meinen sie Menschen, die in extremer Armut leben, also zum Beispiel auf der Straße um Geld oder Essensreste betteln oder teilweise auf dem Markt versuchten, ihre einzige Habe an den/die Käufer/in zu bringen. Auch der unfreundliche Zusatz "indios/cholas de mierda" ist dabei keine Seltenheit. Davon abgesehen, dass Menschen die selbst teilweise indigene Vorfahren haben nun mitunter andere Menschen verachten, bei denen die Mischung etwas anders ist - und damit noch etwas unmittelbarer sich selbst, als das bei allem Rassismus sowieso der Fall ist -, habe ich erlebt, wie es etwa zu inner-familiären Spannungen führen kann, wenn ein Halbbruder wesentlich „indigener“ aussieht als seine Geschwister.
Nehmen wir nun also an wir haben einen relativ hellhäutigen Mittelschichtsbolivianer, der rassistische Einstellungen hat. Die Leute, die weniger als er (oder gar nichts) haben zu verachten ist leicht und in aller Regel konsequenzenlos für ihn. Was aber ist mit jemandem, der von Hautfarbe und Physiognomie deutlich der indigenen Bevölkerung angehört, aber Karriere gemacht hat, sagen wir, dass er nicht auf dem Markt sein kümmerliches Hab und Gut feilbietet, sondern ihm der Markt gehört oder - von solchen Leuten wird in der dortigen Mittelschicht gerne gesprochen, ob es sie gibt, sei hier einfach mal dahingestellt - den Fleischhandel in einem ganzen Marktviertel kontrolliert?
Natürlich kann unser hellhäutiger Mittelschichtler den reichen Indigenen/Mischling verachten, sich hinter vorgehaltener Hand darüber aufregen, dass der "indio de mierda" wesentlich mehr Geld hat als er. Aber dass ist nicht das gleiche, weil die Machtverhältnisse dahinter andere sind. Zum Bettler zu sagen: "Verpiss dich, Indio de mierda!" bleibt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit folgenlos. Sagt man es zum Marktbesitzer könnte er einem, wenn er denn wollte, wahlweise einen Anwalt oder einen Auftragskiller auf den Hals hetzen (ich gucke zu viele Filme, ich weiß). Und auch die innerpsychischen Vorgänge sind nicht die gleichen, wenn man jemanden ablehnt, dem man sich zugleich ethnisch und sozial überlegen fühlt oder aber jemandem, dem man sich zwar ethnisch überlegen, aber zugleich sozial unterlegen fühlt. Denn: die vermeintlich gottgegebene Hierarchie der "Rassen", die selbstverständlich nichts weiter als ein Überbleibsel des Kolonialismus ist und also so menschgemacht wie nur irgendwas, scheint in letzterem Fall erhebliche Risse zu bekommen. Das einzige was gleich bleibt, sind die äußeren Markierungen: Hautfarbe und bestimmte physiognomische Merkmale.
Eine Szene aus einem bolivianischen Film, den ich in Cochabamba im Kino gesehen habe, ZONA SUR (Juan Carlos Valdivia, 2009), mag das anschaulich belegen. Es geht um eine immer prekärere weiße und gutbürgerliche Familie in der Zona Sur, dem Reichenviertel von La Paz, die schließlich ihr Haus verkaufen muss. Gekauft wird es von einer "Chola", einer jener Frauen in der typischen Tracht mit buntem Rock und Melone, nur ist sie hier mit teuren Klunkern behängt und wenn sie den Reißverschluss ihrer typischen karierten Markttasche aus Kunststoff aufmacht, lachen einen lauter Bündel von Dollarscheinen an: die Insignien der indigenen Bevölkerung des Landes und die der internationalen Macht so geschickt wie schicksalsvoll verschränkt. Dass das eine weiße (Angst)Phantasie in einem Land ist, das seit 2006 erstmals einen Präsidenten hat, der der indigenen Bevölkerungsmehrheit entstammt, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung - wie klug sie hingegen vom Film als solche reflektiert wird, vermag ich nicht ziemlich genau zehn Jahren nicht mehr zu sagen. Allerdings habe ich Szene und Figur als absolut super in Erinnerung.

Auch unsere westlichen Mainstream-Diskurse sind - zumindest mehr oder weniger - Mittelschichtsdiskurse, unmarkiert ist in ihnen nicht nur, wer weiß, männlich, hetero, Cis, usw. sondern auch wer Mittelschicht ist - oder zumindest nicht übermäßig reich. Die Sprache gibt darüber Auskunft: es gibt kein Wort wie das englische "bum" für jemanden, der in einem stinknormalen 9-5-Job ein durchschnittliches Einkommen hat und in einer mittelgroßen Wohnung lebt. Für jemanden, der wesentlich mehr hat, hingegen gibt es solche Worte: nur zum Besipiel "yuppie". (Hier sei auf die Parallele dieser Diskurse zum Verhältnis gringo/(weißer) Mittelschichtler/indio in Bolivien kurz hingewiesen.)
Es gibt wenige gute Gründe dafür, die internationale Elite, die einen Großteil des Reichtums auf diesem Planeten auf sich vereint - und in der sich auch die nationalen Eliten in jedem kapitalistischen Land spiegelt -, zu mögen. Und ja: aufgrund der Machtverhältnisse der Neuzeit, die mit dem europäischen Kolonialismus begann, sind die meisten, die zu diesen Eliten gehören, weiße Männer wie ich - nur dass ich eben für deutsche Verhältnisse (!) ziemlich prekär bin.
Aber vielleicht kann es doch dabei helfen, dass wir besser miteinander klarkommen, wenn wir diese Scheißmarkierungen als das erkennen, was sie sind: Aufhänger für soziale bzw. klassistische Konstrukte, die dem Erhalt bestehender Machtverhältnisse dienen und die zu dekonstruieren möglich und nötig ist. Denn, let's face it, die einzigen paar Unterschiede, die es zwischen uns geben sollte, belaufen sich auf ca. siebeneinhalb Milliarden unterschiedliche Individuen.

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