Samstag, 5. Januar 2019

Ödipus und Hamlet, aber keine wirkliche Katharsis in "Neun Mädchen auf der Hölleninsel" (Dinos Dimopoulos, Griechenland 1963)

Zu Beginn eine Kerkerwelt aus Mauern und Gittern und den Schatten, die sie werfen (wunderschön fotografiert und kadriert, doch wie in aller großen Kunst macht das die Sache nur noch unerträglicher, hier: klaustrophobischer). Dann die Flucht einer Gruppe weiblicher Häftlinge, die nicht nur in einem Knast eingesperrt sind, sondern auch in ihre eigene Biographie, den Nachwirkungen der Narben, die sie auf den Seelen tragen - und den Unterarmen to tell their Story, aber es gab und gibt für sie keinen "einfachen" Ausweg. Dann die Flucht, zunächst, wie Vieh, in einen Eisenbahnwagon gesperrt, mehr Gitter, mehr Schatten.

Auf einer entlegenen Insel soll der freie Himmel Glück bringen. Doch da haben die Frauen die Rechnung ohne die männlichen Wirte gemacht, eine Gruppe von Gangstern, die hier einen vergrabenen Schatz suchen. Damit entwickelt sich der Film zu einer griechischen Vorab-Exploitation-Version von Lav Diaz' Meisterwerk "The Woman who Left", über den ich schrieb, dass zu Beginn in einem Frauengefangenenlager Machtverhältnisse sichtbar gemacht werden, "die die Figuren des Films sehr direkt betreffen, aber auch auf größere Zusammenhänge verweisen: die einen haben Spitzhacken, die anderen Maschinenpistolen." Nur machen Exploitation-Filme solche Machtverhältnisse eben schonungsloser sichtbar, als es noch das beste Autorenkino im klassischen Sinne könnte (was keine Wertung per se ist, man kann da natürlich immer nur von Film zu Film entscheiden, was passender ist). Jedenfalls graben die einen hier einander sehr buchstäblich ein Grab, während die anderen sitzend zugucken, saufen und von einem besseren Leben phantasieren, in dem sie die Frauen nun auch sexuell ausbeuten könnten. Soviel mal wieder zur Freiheit der Männer im Patriarchat.

Psychoanalytisch interessant wird es dann aber auf der individuellen Figurenebene. Der Anführer der Männer ist ein widerlicher Patriarch. Er hat die Familie einer der Frauen auf dem Gewissen. Seinem Sohn ist die skrupellose Brutalität des Vaters zuwider. Er rebelliert. Doch das Steinzeitpatriarchat sagt dem Vater, dass er zwar gewissenlos aus Kapitalinteressen und um den eigenen Arsch zu retten über viele Leichen gehen darf, nicht aber über die des eigenen männlichen Nachkommens. Also gibt es für den Ungehorsamen "nur" ein paar Ohrfeigen. Freud sah zwischen Ödipus und Hamlet 2000 Jahren menschheitsgeschichtlicher Sublimierung von Gewalt und Begehren: vom Mann, der zwar unwissentlich, aber aus einem unbewussten Wunsch heraus - "denn wer hätte nicht schon im Traum mit der Mutter geschlafen" heißt es bei Sophokles sinngemäß - den Vater ermordet und die Mutter zur Frau nimmt zum Zauderer, der das ganze Stück lang damit ringt, den tatsächlichen Mörder seines Vaters zu richten, weil dieser ihm besagten unbewussten Wunsch erfüllte. Auch unser Held hier ist mehr Zauderer als Mörder.

Schließlich gibt ihm der Vater, den zu töten er sich nicht traut, den Auftrag, die Frau zu ermorden, an deren Familie er sich verschuldigt hat. Doch er bringt es nicht übers Herz, nimmt sie unter dem Vorwand, sie vorher in Ruhe vergewaltigen zu wollen, beiseite - und lässt sie dann davon schwimmen. Sie kehrt mit Hilfe zurück. Der böse Vater wird erschossen. Allerdings nicht von seinem Sohn. Das Ende bietet dann in der Paarbildung eine Erfüllung ödipaler Wünsche: erst der Tod des Vaters macht es dem Sohn möglich, die Frau zu bekommen, die er liebt. Allerdings ist das auf ähnlich harte Art gebrochen wie in "Y tu mamá también" - nur vollkommen anders als dort; einmal mehr: Exploitation vs. Arthaus-Autoren-Kino. Die noch lebenden ziehen in einer Art Prozession davon, die einen haben immer noch Maschinenpistolen, die anderen nicht. Die letzte Einstellung dann zeigt ein Kreuz auf einem Grab. Und wie in jedem Film, der das Grauen dieser Welt in dieser Härte zeigt, das dabei letztlich ein derart archetypisches ist, das es immer wieder auf die gleichen Jahrhunderte oder Jahrtausende alten Geschichten rekurrieren kann, stirbt etwas in einem, nachdem man ihn gesehen hat.

Ich jedenfalls habe am Ende zum ersten Mal seit sehr langer Zeit im Kino bitterlich geweint. Soviel melodramatische Katharsis habe ich mir am Ende dieses Films wohl auch redlich verdient.

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