Montag, 7. Januar 2019

Performanz im Kino 2: Im Dschungel der Identifikationen. Zum Disney-Klassiker "The Djungle Book" (Wolfgang Reitherman, USA 1967)

Mowgli, das Kind ohne Eltern, im Urwald der Identifikationen. Zunächst ist da der Panther Bagheera, der sich väterlich um ihn kümmert, wobei er es als seine Aufgabe ansieht, das Menschenkind, das bei einer Wolfsfamilie aufwuchs, wieder in die Menschliche Gesellschaft zu integrieren. Er steht also, psychoanalytisch betrachtet, für ein Realitätsprinzip, das sagt: Weil der Mensch ein Mensch ist, muss er unter seinesgleichen aufwachsen. In seinem Verhalten vermischen sich Beschützerinstinkt mit rationalen Erwägungen.

Schnell wird in diese Konstellation eine andere Vaterfigur eingeführt: Der Bär Baloo, die mit Abstand sympathischste, coolste, angenehmste und interessanteste Tierfigur des Films. Und dabei auch sein heimliches Zentrum (dazu später mehr). Er ist sehr deutlich das Lustprinzip. Was sich schon darin ausdrückt, dass er sich nicht, wie Bagheera, einen Kopf darum macht, was für Mowgli am besten wäre, sondern sich von seinen eigenen Gefühlen leiten lässt: Er mag den kleinen Racker einfach, der ein Stück weit in den diversen Identifikationsangeboten, die der Film ihm bietet, wie ein unbeschriebenes und zu beschreibendes Blatt wirkt, aber dabei doch merklich seinen eigenen (Dick)Kopf hat, wenn es etwa darum geht, gegen Bagheeras Strenge und seine Pläne für ihn zu rebellieren. Deshalb will er ihn ganz für sich haben, ihn unter seine Fittiche nehmen, ihm alles beibringen, was er weiß. Das verdichtet sich in der Schlüsselszene des Films, in dem schönsten seiner vielen schönen Songs, der zugleich der bekannteste und auch der für den Film wichtigste ist:


Tatsächlich steckt in "The Bare Necessities" eine sehr wichtige Botschaft über die Gelassenheit und die Konzentration auf das Wesentliche, die gerade der westlichen Kultur, der der Film entstammt, bzw. sehr vielen ihrer Bewohner*innen sehr gründlich abgeht. Auf Facebook drückte ich es überspitzt aus: All the philosophy you'll ever need… Kein Wunder also, dass sich Mowgli einen solchen Vater gerne gefallen lassen würde und am Ende des Songs nicht nur begeistert ins Lied mit einstimmt und die Moves des Bären nachahmt, sondern auch zufrieden feststellt: "I like being a bear."

Wenig später wird Mowgli von einer Bande von Affen entführt, deren erklärtes großes Ziel es ist, Menschen zu werden. Die Struktur der Identifikation wird also umgekehrt: das Menschenjunge nimmt sich einen großen Buddy-Bären zum väterlichen Vorbild, die ausgewachsenen Affen einen kleinen Jungen. Vielleicht die utopischste der Begegnungen auf Mowglis Weg durch den Urwald ist die mit einer Gruppe Geiern, die der Film als ewige Oustcasts charakterisiert, denn wo noch der zärtlichsten und behutsamsten Eltern-Kind-Beziehung ein Machtgefälle innewohnt, geht es hier merklich um eine Art der Beziehung, die von Beginn an auf Augenhöhe stattfinden kann: Freundschaft. Unser kleiner Held trifft auf sie, als er den emotionalen Tiefpunkt in der Handlung des Films erreicht hat. Er ist trostlos, bedrückt, niedergeschlagen. Sie schaffen es, nachdem sie ihn zunächst misstrauisch beäugen, aber schnell merken, dass er nicht böse ist, sie nicht dafür diskriminiert, dass sie sind, wie sie sind, sondern ihnen genauso begegnet wie all den anderen anthropomorphen Tieren des Films, ihn aufzuheitern, wieder aufzubauen. Denn, wie sie es im Ständchen verkünden, das sie ihm singen: "That's what friends are for."

Leider stimmt jemand in das Lied ein, der nicht zu den freundlichen Dschungelbewohner*innen gehört: der Tiger Sheer Khan. Dessen englisch adliger Dialekt ihn im Phantasieindien, in dem der Film spielt, deutlich als Kolonialisten charakterisiert. Die Geier sind sichtlich eingeschüchtert von der pikierten Raubkatze, die wohl aus einem traumatischen Erlebnis heraus immensen Hass auf die Menschen hegt. Ihr kommt also das Menschenjunge gerade recht, um Rache an dessen Art zu nehmen. Zum überbesorgten Vater Bagheera und zum gechillten Baloo, gesellt sich nun also auch noch ein böser Vater. Die wohl tatsächlich einzige (einigermaßen klar) als weiblich gekennzeichnete Tierfigur ist die verschlagen zischende, gemeine Hypnosetaktiken anwendende Schlange Kaa (als böse Mutter?)

Entscheidend an der ersten Begegnung zwischen Mowgli und dem Tiger ist, dass sich der Junge kein bisschen von seinem ihm körperlich haushoch überlegenen und mörderischen Gegner einschüchtern lässt. Es stellt wohl kaum eine psychologische Überinterpretation dar, zu sagen, dass ein Kind, dass in dieser Art auf Lebensgefahr reagiert in seinen paar Jährchen schon eine ganze Menge durchgemacht haben muss.

Ich habe von den Disney-Zeichentrick-Klassikern, die ich teilweise in der Kindheit rauf und runter geguckt habe, seit dem kaum jemals einen wiedergesehen. In der vergangenen Woche nunmehr aber gleich zwei. "Dumbo" war letztlich ein hochpolitisches Technicolor-Musical von 1941, das für mich heute sowohl in den dargestellten Beziehungsmustern und -Dynamiken als auch in seinem hammerharten sozialen Kommentar teilweise schwer erträglich war (auch wenn die Katharsis am Ende, in dem der kleine Elefant, der von den feinen Elefantendamen wegen seiner Riesenohren als "Freak" gebrandmarkt wird, diese am Ende nutzt, um in ein besseres Leben zu fliegen, vortrefflich funktioniert). "The Jungle Book", den ich danach sah, funktioniert da grundlegend anders, was maßgeblich daran liegt, dass es letztlich kein Mowgli- sondern ein Baloo-Film ist, der in seinem Umgang mit Traumatischem, mit Tod, Trennung, Verlust zwar durchaus auf melodramatische Zuspitzungen setzt, dabei aber doch von einer Gelassenheit erfüllt ist, die über den Schmerz nach wenigen Minuten oder Sekunden hinweg ist. In der Regel geschieht das dadurch, dass Baloo sich schlicht nicht unterkriegen lässt, seine Bedrückung über das Geschehene schon nach sehr kurzer Zeit mit einem coolen Spruch, einem Witz oder einem Lied kompensiert, sehr schnell wieder ganz der alte ist.

Nachdem dieser Text jetzt schon wesentlich länger ist, als ich die Einträge auf diesem Blog eigentlich halten möchte, scheint es mir daran anknüpfend unerlässlich, noch die letzte Szene ausführlicher zu analysieren: Mowgli geht schließlich in das Menschendorf zurück, weil er ein Mädchen sieht, dass am Fluss Wasser holt und dabei singt, und deren Versuchungen er sofort erliegt wie die Seefahrer denen der Sirenen bei Homer. In die sonderbar asexuelle Dschungelwelt des Films, in der es keine weiblichen Tiere zu geben scheint und jeder sexuelle Subtext zwischen den männlichen wenn überhaupt ein sehr weit sublimierter ist, tritt nun ein Begehren, dass hier offenbar nur als heterosexuelles gedacht werden kann. Aber das die Produktion einer heterosexuellen Matrix wie sie Judith Butler sehr treffend psychoanalytisch konzipierte, selten so bezaubernd, hypnotisch und schön war wie in den letzten Minuten des Films ist dabei nur das eine. Denn zum anderen, gibt es da noch ein kleines Detail. Die Frau, die geschickt mit dem Begehren des männlichen Helds für sie spielt, lässt bewusst ihren Wasserkrug zu ihm rollen (ein Schachzug übrigens, den Panther und Bär, die die Szene aus dem Urwald mit ansehen als würde sie sich auf einer Kinoleinwand abspielen, sofort durchschauen). Einerseits findet die Suche nach männlichen Identifikationsangeboten hier mit der Entdeckung eines weiblichen Sexualobjekts ein Ende. Andererseits dürfen wir dabei nicht vergessen, dass unser kleines Menschenjunge keinerlei Verhältnis zur Welt kennt, das nicht nach den Regeln der Mimikry funktionieren würde. So hebt er nun den Krug auf, setzt ihn sich auf den Kopf und läuft, wie benebelt hinter der Angebeteten hinterher. Kaum ist eine Heterosexualität hier  konstruiert, dauert es doch nur wenige Sekunden, bis der Film anfängt, mit der patriarchalen Arbeits- und Geschlechterverteilung subversiv zu spielen.

Allerdings hört der Film nicht mit Mowgli und seiner neuen Liebschaft auf, sondern mit Bagheera und Baloo. Letzterer muss nun den Schmerz überwinden, das sein geliebtes Ziehkind letztlich also doch den Weg geht, den Ersterer von Anfang an für ihn vorgesehen hatte. Im Hinblick auf das andere Geschlecht merkt Baloo nun an, dass es keine gute Idee (für Mowgli?) ist, sich mit ihm einzulassen, denn das bringe nur Ärger. Da das Kind aber nun einmal weg ist, verschwindet mit ihm auch die Rivalität zwischen Bär und Panther, in der es ja letztlich um die nun wegfallende Frage der richtigen Erziehung ging. Hier ist also Versöhnung angesagt und Arm in Arm ziehen die zwei davon in den Dschungel, nunmehr gemeinsam das Lied von den "Bare Necessities" anstimmend. Ob wohl immer noch die selben gemeint sind wie zu  Beginn des Films? Wer weiß...

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